Zur Person
Anna Rosenwasser ist 1990 in Flurlingen geboren und aufgewachsen. Sie studierte Journalismus und Politikwissenschaft. In Schaffhausen gründete sie einen queeren Jugendtreff mit, seit 2008 arbeitet sie als Journalistin und Autorin, sie schrieb zum Beispiel für die «Schaffhauser Nachrichten» und die «Republik». Von 2017 bis 2021 arbeitete sie bei der Lesbenorganisation Schweiz (LOS), unter anderem als Geschäftsführerin. 2023 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, dieses Jahr erscheint es in der dritten Auflage. Im Oktober wurde sie für die Zürcher SP überraschend in den Nationalrat gewählt – auch mit 39 Panaschierstimmen von der Liste 1. (tz)
Frau Rosenwasser, aufgewachsen sind Sie in Flurlingen, seit acht Jahren leben Sie in Zürich. Ist Heimat für Sie ein Ort?
Anna Rosenwasser: Ich plädiere dafür, mit dem Konzept Heimat «süferli» umzugehen. Für mich bedeutet Heimat Stabilität und Sicherheit, die eine Gemeinschaft geben kann. Eine Landes- oder Gemeindegrenze gehört da nicht dazu. Trotzdem bedeutet mir Flurlingen natürlich etwas. Ein Beispiel: Wenn ich einen Ostschweizer Dialekt höre, löst das bei mir automatisch Heimatgefühle aus. Leider habe ich mein Schaffhauserdeutsch mittlerweile verloren.
Spüren Sie eine Art Lokalpatriotismus?
Grundsätzlich fand ich an dieser Form von Patriotismus immer schön, dass er sich in erster Linie über Gemeinsamkeiten definiert und nicht über Ausgrenzung. Klar findet man als Flurlingerin die Schaffhauser blöd, die hier in die Badi kommen, und man würde niemals an den Feuerthaler Hilari gehen. Doch das sind typische Neckereien, die es so in jeder Gemeinde gibt.
Sie sprechen von Gemeinschaften, in denen Sie sich zu Hause fühlen. Meinen Sie damit Ihre Familie?
Nicht nur. Es ist sehr schön, in einem Ort aufzuwachsen, wo man vernetzt ist. Unsere Familie lebte mitten im Dorf, quasi eingeklemmt zwischen Post, Spar und Schulhaus. Da kriegte man alles mit, war überall dabei. Und man begegnete sich gegenseitig immer auf Augenhöhe. Meine Familie bietet mir ein extrem unterstützendes Umfeld, das sehe ich als grosses Glück. Wir sind uns nah, im Wortsinn: Manche Verwandte lebten eine Zeit lang nicht in Flurlingen und sind nun wieder ins Dorf zurückgekehrt, jeden Samstag treffen sich alle zum Zmittag. Es gibt aber auch andere Beispiele: Viele queere Menschen wenden sich von ihrer Familie ab, weil sie keine Unterstützung erfahren, sondern Ablehnung.
Seit Jahren setzen Sie sich für queere* Menschen ein, unter anderem waren Sie Geschäftsführerin der Lesben- und Schwulenorganisation Schweiz. Wie bilden queere Menschen eine Gemeinschaft?
In meiner Generation war es so: Am Wochenende pilgerte die gesamte Landjugend an den nächsten Bahnhof, von da ging es in den Ausgang. Viele queere Personen zog es nach Zürich oder Basel, denn dort fanden ihre Partys statt. So schön, wie diese Feiern sind, so viele Risiken bergen sie auch. Schon für eine Frau ist es ja nicht ungefährlich, morgens um vier eine Stunde auf den nächsten Zug zu warten. Für Menschen, die dann noch speziell gekleidet sind oder anderweitig aus der Norm fallen, ist es richtig gefährlich. Und schliesslich sind an Partys auch fast immer Alkohol und Drogen involviert. Deshalb ist es wichtig, dass zusätzliche Treffpunkte entstehen, wo sich queere Menschen begegnen können, etwa Cafés oder Diskussionsräume. Der Weg nach Zürich ist dann zwar immer noch weit, aber wenigstens kann er tagsüber zurückgelegt werden.
In einem Ihrer Texte haben Sie einmal geschrieben, dass sich junge, queere Menschen in ländlichen Gebieten oft als «the only gay in the village» fühlen. Was kann man gegen diesen Glauben, isoliert zu sein, konkret tun?
In einem Dorf kann es schwieriger sein, mit der eigenen Identität offen umzugehen, insbesondere wenn diese dort als falsch oder gar krankhaft gilt. Und wenn es einer weiss, dann wissen es sofort alle. Vertrauenspersonen können Jugendarbeitende sein, in einigen Fällen auch Lehrpersonen. Dennoch will ich die schwierige Aufgabe nicht alleine auf den Schulbetrieb abwälzen: Lehrerinnen und Lehrer müssen sich das zutrauen.
Weshalb ist es überhaupt wichtig, dass queere Menschen Bezugspersonen oder eine Community erhalten?
Dazu eine Zahl: Das Risiko einer psychischen Erkrankung ist bei Queers bis zu fünfmal höher als bei heterosexuellen Menschen, die sich in ihrem biologischen Geschlecht wohlfühlen. Das lässt sich auf den sogenannten Minderheitenstress (Stress, dem Angehörige stigmatisierter Minderheiten ausgesetzt sind, Anm. d. Red.) zurückführen. Es braucht ein Umfeld, in dem sich dieser Stress abbauen lässt.
Was raten Sie Eltern, die bemerken, dass ihr Kind queer ist?
Ich glaube, grundsätzlich gibt es zwei Arten, wie man an die Sache herangehen kann: entweder mit Überforderung und Ablehnung oder mit Überforderung und Neugier. Niemand erwartet, dass Eltern zu einem Lexikon über Queerness werden. Es ist nicht einfach, wenn das eigene Kind etwas hinterfragt, das man bisher für allgemeingültig gehalten hat. Dem mit Neugier zu begegnen, wird den entscheidenden Unterschied im Leben dieses jungen Menschen machen.
Anstatt sich an Jugendarbeiterinnen, Lehrer oder die Eltern zu wenden, informieren sich junge Menschen heute vorwiegend online, sie finden dort heraus, wer sie sind.
Die Möglichkeit, sich informieren zu können, ohne andere miteinbeziehen zu müssen, kann wertvoll sein. Trotzdem kann es den Austausch mit Freunden nie ersetzen. Oft wird heute behauptet, das eigene Coming-out spiele keine grosse Rolle mehr, ich finde es aber weiterhin wichtig. Denn wer sich selbst als queer zu erkennen gibt, bei dem werden sich auch weitere Menschen outen. Das ist eines der schönsten Gefühle, die ich kenne.
Erst im Oktober schrieben Sie in der «Republik», Sie hätten bei mühsamen Witzen über ländliches Leben gelernt, wegzuhören. Was ist ihr Lieblings-Landwitz?
Lustig fand ich immer das Phänomen, dass man mit allen irgendwie verbunden ist: Entweder bist du gemeinsam mit meinem Bruder zur Schule gegangen, man hat sich im Ausgang getroffen, oder man ist über vier Ecken verwandt. Mehr als einmal ist es mir passiert, dass mich in Schaffhausen jemand grüsste, ohne dass ich wusste, wer es war. Da habe ich immer gefragt: «Hatten wir was zusammen, oder sind wir verwandt?»
Seit Ihrer Wahl in den Nationalrat ist die SP in Flurlingen stärkste Kraft. Wer hat Sie gewählt?
Ja, jetzt gibt es einen kleinen roten Tupfer im Weinland. Wenn ich auf die Grafiken schaue, kommt es mir vor wie ein gallisches Dorf. Die Nachwahlbefragung hat gezeigt, dass wir viele junge Frauen mobilisieren konnten. Zu einem guten Teil habe ich meine Wahl diesen jungen Feministinnen zu verdanken. Mit ihren Themen stehe ich seit zehn Jahren in der Öffentlichkeit. Manchmal höre ich das übrigens als eine Art Vorwurf: «Du bist halt berühmt!», heisst es dann. Aber diese Glaubwürdigkeit ist hart erarbeitet.
Im vergangenen Dezember fand die erste Session der neu konstituierten Räte statt. Sie haben dort gegen die Landschaftsinitiative gestimmt, die den Verlust weiteren Kulturlands und die Zersiedelung verhindern will. Oder auch dagegen, dass Bauern 3,5 Prozent Biodiversitätsfläche im Ackerbau erst ein Jahr später umsetzen müssen.
Der Umweltschutz ist mir ein Anliegen, dafür stehe ich ein. Doch ich muss zugeben, dass ich noch nicht in alle Themen gut eingelesen bin. Oft habe ich in meiner ersten Session so abgestimmt, wie es die Fraktion vorgab.
Dafür haben Sie sich erfolgreich gegen eine Verteuerung der Sturmgewehrmunition für Schützen gewehrt. Das dürfte unsere Vereine freuen.
Meine Frau hat früher Pistole geschossen, von daher habe ich zumindest eine Verbindung (lacht). Um ehrlich zu sein: Auch hier bin ich der Empfehlung der Fraktion gefolgt.
Eine Abstimmung haben Sie verpasst?
Es waren sogar zwei. Das erste Mal waren wir in der Delegationssitzung für die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK), in der ich sitze. Und dann sind ja immer am letzten Tag der Session die Schlussabstimmungen, morgens um acht. Eigentlich der einzige Tag, an dem man wirklich pünktlich sein muss. Das hatte ich noch nicht gewusst. Also lief ich gemütlich mit Taylor Swift in den Ohren durch die Berner Innenstadt, als der Fraktionskollege anrief: «Hey, wir stimmen ab!» Da habe ich ein Votum verpasst, zu dem ich mir sogar eine Meinung gebildet hatte …
Worum ging es?
Um die Einrichtung eines Gebetsraums im Bundeshaus. Das wäre meiner Meinung nach nicht nötig gewesen, es gibt bereits Ruheräume, und es finden kleine Gottesdienste statt. Das Anliegen wurde dann auch ohne meine Stimme abgelehnt.
Kaum war die Session vorbei, begann in Flurlingen der Hilari. Waren Sie da?
Leider nicht, aber eigentlich liebe ich Hilari. Sich zu verkleiden, zusammen tanzen im Rheintalsaal oder das gemeinsame Singen des Hilarilieds … Heute skandiere ich die Parolen an Demos, vielleicht war da der Hilari eine gute Vorbereitung (lacht). Die ganzen Texte kann ich heute noch auswendig. Hilari hat mir gezeigt, was Tradition sein kann.
In Ihren Kolumnen beschreiben Sie ältere Männer oft mit typischen Vornamen wie Walter, Ueli oder Roland. Unser Redaktionsleiter lässt fragen, ob Sie nicht auch mal andere Namen verwenden könnten?
Es wird mir ab und zu angekreidet, aber ich meine damit eben nicht ein Individuum, sondern einen bestimmten Typ Mann. Mit solchen Witzen bin ich neuerdings etwas vorsichtiger. Denn es gibt Parlamentarier mit solchen Vornamen, und ich möchte nicht, dass meine Witze dann mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Auf jeden Fall: Gruss an Roland!
*Was ist queer?
Im Englischen bedeutet queer «seltsam». Gemeint sind alle sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, die von der Norm abweichen. Das können lesbische oder schwule Personen sein, aber zum Beispiel auch Menschen, die sich nicht oder nicht ausschliesslich mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Mehr zum Thema auch in der Ausgabe vom kommenden Dienstag. (tz)
Die Wahlsiegerin aus dem Weinland