Standortsuche begann vor einem halben Jahrhundert
Zürich: 50 Jahre nach der Gründung der Nagra ist am Montag der Standortentscheid für das geologische Tiefenlager kommunziert worden: Es soll in Nördlich Lägern gebaut werden.
Weiach feierte am Samstag mit einem Dorffest sein 750-jähriges Bestehen. Das grosse Thema am Wochenende dürfte aber ein anderes gewesen sein: In unmittelbarer Nähe will die Nagra das geologische Tiefenlager bauen. Nördlich Lägern heisst diese Region im Zürcher Unterland, die Oberflächenanlage käme zwischen Weiach, Stadel und Glattfelden zu liegen.
Was ab Mittwoch als Gerücht durch den Blätterwald rauschte, wurde am Samstag zur Gewissheit, als die Grundeigentümer im Gebiet Haberstal informiert wurden. Ganz überraschend kann der Entscheid nicht gekommen sein: Am 21. November 2018 hatte der Bundesrat nach Nagra-Abklärungen entschieden, dass noch drei Standorte für ein geologisches Tiefenlager vertieft untersucht würden: Jura Ost (AG, westlich von Brugg), Zürich Nordost (Weinland, ZH/TG) und eben Nördlich Lägern (AG/ZH).
2019 bis 2022 führte die Nagra in diesen drei verbliebenen Regionen unter anderem weitere Sondierbohrungen durch, um ihre geologischen Kenntnisse zu vervollständigen. Die Lagerprojekte wurden unter Einbezug der Standortregionen konkretisiert und die Auswirkungen der Lager auf Gesellschaft und Wirtschaft untersucht.
Erster Vorschlag: Weinland
1972 gründeten die fünf Betreiber der Atomkraftwerke und der Bund die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, abgekürzt Nagra. Ihr Auftrag lautet gemäss heute geltenden Statuten: «Die Genossenschaft bezweckt als Selbsthilfeorganisation der Partner die Errichtung und den Betrieb von Lagern für radioaktive Abfälle und der dazu notwendigen Anlagen.»
1993/1994 schlug die Nagra nach ihren Abklärungen zwei Lagerstandorte vor. Schwach- und mittelaktive Nuklearabfälle sollten im Wellenberg NW gelagert werden, hochradioaktive und langlebige mittelradioaktive Abfälle in einer tiefen Gesteinsschicht unter Benken im Weinland. Diesen Standort oder vielmehr das vorhandene Opalinus-Gestein erklärte sie am 20. Dezember 2002 als geeignet für ein Tiefenlager und empfahl die Fokussierung auf Benken.
Nun soll es aber das Gebiet Nördlich Lägern sein. Die geologischen Verhältnisse seien dort für ein Tiefenlager am besten. Die Verpackungsanlagen, die sogenannte heisse Zelle, soll beim Zwischenlager in Würenlingen erstellt werden. Dies schone Ressourcen und sei raumplanerisch die beste Lösung, hiess es am Montag. Das Zwischenlager hat am 18. Juni 2001 den Betrieb aufgenommen. 2050 sollen erste Behälter im Boden gelagert werden. (az)
Als am Mittwoch die ersten Medien von einer sich abzeichnenden «Überraschung» beim Standortvorschlag der Nagra sprachen, konnte das im Weinland nur so gedeutet werden: «Also doch nicht bei uns?!» Denn seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten deuteten die Forschungsresultate der Nagra aufs Weinland hin. Die gigantische Baustelle und die nukleare Anlage im Dreieck Marthalen-Rheinau-Benken schienen so sicher wie das Amen in der Kirche.
Wohl genau aus diesem Grund verfolgten im Weinland die vom Bund eingerichtete Regionalkonferenz Zürich Nordost und viele weitere Organisationen die Tiefenlagersuche besonders gründlich und forderten wiederholt Verbesserungen im Verfahren, zusammen mit anderen Akteuren wie Kantonen und Aufsichtsbehörden.
Eine unerwartete Kehrtwende
Aus heutiger Sicht matchentscheidend ist, dass «Nördlich Lägern» 2015 zurück ins Rennen musste – entgegen der Absicht der Nagra, die dort grössere bautechnische Schwierigkeiten befürchtete als beim Aargauer «Bözberg» und dem Weinländer «Isenbuck». Nachdem die Region «Nördlich Lägern» nun gleich gründlich untersucht worden ist, attestieren ihr die Geologen gar die beste Eignung. Mit so einer Kehrtwende hätte wohl kein Laie gerechnet.
Die kritische Nachfrage nahm Nagra-CEO Matthias Braun an der gestrigen Pressekonferenz im Bundeshaus gleich vorweg: «Wir waren damals übervorsichtig. Aber nun ist der Entscheid erfreulich eindeutig: Die Geologie hat gesprochen.» Diese im Lauf des Prozesses entwickelte Lernfähigkeit plane die Nagra in die nächsten Phasen ein: «Wir werden immer nur so viel festlegen wie nötig, um die Möglichkeiten zum Einarbeiten neuer Erkenntnisse offenzuhalten.»
Bundeshaussprecherin Marianne Zünd betonte, ausser in den potenziell betroffenen Regionen habe die Schweizer Bevölkerung vom Thema Tiefenlagersuche bisher «wenig mitbekommen.» Doch die nicht abreissende Liste an Pressemeldungen seit Mittwoch beweist, dass diese Involvierten umso besser hinschauen und ihre Meinung deponieren wollen.
Regionalkonferenz fährt zurück
So schreibt die Regionalkonferenz Zürich Nordost, sie nehme den Vorentscheid der Nagra zur Standortwahl zur Kenntnis. Sie sei erleichtert, dass das Weinland nicht ausgewählt wurde und nach Meinung der Wissenschaftler keine optimalen Voraussetzungen für die sichere Entsorgung der atomaren Abfälle gewährleiste. Dass die letzten sieben Jahre zu einem Standortwechsel führen konnten, schaffe Vertrauen in das Verfahren. «Wir begrüssen ausdrücklich, dass die Nagra auf den Bau der Brennelemente-Verpackungsanlage («heisse Zelle») als Teil der Oberflächenanlagen verzichten will», schreibt Präsident Jürg Grau weiter. Die Solidarität gelte der ausgewählten Region Nördlich Lägern.
Auch wenn im Weinland mit dem Vorentscheid für Nördlich Lägern keine Infrastrukturelemente mehr vorgesehen sind, werde man die weitere Entwicklung kritisch mitverfolgen. Die als Verein organisierte, 132-köpfige Regionalkonferenz möchte Jürg Grau zwar nicht ganz auflösen, aber auf kleinste Flamme herunterfahren. «Zuerst muss aber der Vorstand über meinen Vorschlag abstimmen. Ich stelle mir eine Handvoll engagierter Leute und eine Geschäftsstelle vor. Die Aufgabe: Beobachten, was anderswo passiert und sich an ein bis zwei Sitzungen jährlich austauschen», sagt er.
Davon, Weinländer Know-how und Leute nun in Nördlich Lägern «unterbringen zu wollen», halte er persönlich gar nichts. «Die sind dort ebenfalls bestens aufgestellt, und man muss auch mal loslassen können.» Er jedenfalls sei auch im Weinland in Zukunft nicht mehr dabei. Das heisst: Schon am Mittwoch leitet er die nächste Vollversammlung in Trüllikon, und am 26. November dann vermutlich die letzte.
Like Weinland löst sich nicht auf
Auch der Marthaler Jürg Rasi mit seinem Verein Like Weinland will nicht gleich Entwarnung geben. «Ein Endlager ist ein Fehlentscheid, auch an einem anderen Standort», sagt er.
Anders als Jürg Grau erkennt er in der Neubeurteilung von Nördlich Lägern nichts Vertraueneinflössendes für die Zukunft. Die Nagra habe sich in den letzten 50 Jahren «immer wieder geirrt, das letzte Mal, als sie Nördlich Lägern wieder in die Untersuchungen aufnehmen mussten». Es sei also gut möglich, dass auch dieser aktuelle Vorschlag später wieder fallengelassen werde, weil die Wissenschaftler von falschen Annahmen ausgegangen seien. «Wir in Marthalen jubeln deshalb heute nicht, auch wenn wir zurzeit natürlich etwas entspannter sind.» Aber auf keinen Fall löse er den Widerstandsverein nun gleich auf. «Vor diesem Hintergrund gehen wir erst mal lieber auf Standby.»
Rheinau: Zwei Szenarien, ein Motto
Benken, Marthalen und Rheinau wären vom Tiefenlager ausserordentlich betroffen gewesen. Die Reaktion Marthalens und Benkens wird in der AZ vom Freitag nochmals zum Thema – in Benken trat gestern nach Redaktionsschluss Regierungsrat Martin Neukom als Redner auf.
Rheinaus Präsident Andreas Jenni platzierte schon vorgängig im Mitteilungsblatt zwei Statements – je eins, falls das Tiefenlager kommt oder eben nicht. Im Grundsatz könne man dieselbe Mitteilung verschicken: Ausschlaggebend sei die Sicherheit, «und diese kann und muss nicht von den Gemeindebehörden beurteilt werden, sondern ist Sache der Bundesbehörden». Weiter steht im «Rheinau-Falter»: «Und was ist mit den Abgeltungen? Die betroffene Region wird entschädigt. Dazu bekennen sich im Grundsatz sowohl die Betreiber der Atomkraftwerke wie auch der Bundesrat. Um welchen Betrag es dabei geht und nach welchen Kriterien dieser verteilt wird, ist aber noch offen. Um für diese Verhandlungen gerüstet zu sein, muss die Region eine kompetente Verhandlungsdelegation zusammenstellen. Die Delegation muss (…) alle Gemeinden, Kantone und auch die Gemeinden der deutschen Nachbarschaft angemessen repräsentieren.»
Er selbst habe über acht Jahre in der Regionalkonferenz gearbeitet und festgestellt, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Region gut zusammengearbeitet haben, auch bei Uneinigkeiten. Dies habe das gegenseitige Vertrauen gestärkt und dazu geführt, dass man sich auch in der schwierigen Frage der Oberflächenanlage auf eine gemeinsame Haltung einigen konnte. «Dieses gegenseitige Vertrauen gilt es zu bewahren.»
Auch in den kommenden Verhandlungen über die Abgeltungen hätten rein partikuläre und engstirnige Interessen keinen Platz. «Die gemeinsame Haltung der Region darf nicht in Schieflage geraten. Das würde niemandem nützen, höchstens den Entsorgungspflichtigen». Was Andreas Jenni der eigenen Region ans Herz gelegt hätte, kann er sicherlich auch der Region Nördlich Lägern nur empfehlen.
Mehr zum Tiefenlager finden Sie in unserem Dossier.
Absage heisst nicht totale Entwarnung