Den Sender hat Matthias Knill noch immer zuhause.
Wer nach 1980 geboren ist, kann sich kaum eine Vorstellung von der Ödnis machen, die vor 1983 auf einheimischen Radiofrequenzen herrschte. In der Schweiz gab es für jede Sprachregion nur gerade zwei offizielle Programme. Wer sich aber für anderes als traditionelle Volksmusik, seichtes Unterhaltungsgedudel oder bildungsbürgerliche Inhalte interessierte, fand beim Landessender kaum ein Angebot. Für vier Schaffhauser Kantonsschüler ein unzumutbarer Zustand. Sie gründeten das Piratenradio «Tutti Frutti». Illegal. Einer von ihnen war der Uhwieser Matthias Knill.
Die Landessender DRS 1 und DRS 2 richteten sich an ein älteres Publikum, die Zielgruppe der Jugendlichen wurde nicht bedient. Anders als andere Piratenradios (etwa Radio 24, siehe Kasten) war «Tutti Frutti» nicht auf einer politischen Mission. «Wir wollten die Frequenzen mit Rock- und Popmusik beleben», sagt Matthias Knill. Wir, das sind die Gebrüder Matthias und Oliver Knill, heute Kommunikationsberater beziehungsweise Mathematikprofessor, sowie Matthias Ackeret und Julian Schütt, beide im Journalismus tätig.
Die technische Entwicklung und der Preiszerfall machten es möglich, dass sich die Schüler für weniger als hundert Franken einen Sender basteln konnten. Für die Technik war Oliver Knill zuständig. Sendeplatz war meist der Cholfirst, unweit der Sportanlage Eggen in Flurlingen. Den Sender mindestens fünf Meter in die Höhe ziehen, und fertig war die Sendestation. Strom lieferte eine Autobatterie. Um auf ihre Sendungen aufmerksam zu machen, behalfen sie sich laut Matthias Knill einer List: «Für kurze Zeit überlagerten wir das offizielle Programm von DRS und kündigten unsere Sendung an.» Und sie wurden gehört. Die Hörer sollen eine rote Fahne an ihr Velo hängen, verkündeten sie über den Sender; am nächsten Tag war im
Velounterstand der Kantonsschule Schaffhausen mancher Drahtesel verziert. «Das hat uns schon stolz gemacht.»
Hausdurchsuchung durch die PTT
Ein harmloses Schülerprojekt, möchte man meinen. Umso mehr erstaunt, wie sehr dieses dem Staat ein Dorn im Auge respektive im Ohr war. Die damaligen Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) als Hüterin des Monopols der SRG setzte alles daran, dem Tun ein schnelles Ende zu setzen. Mit Peilsendern machte die in Winterthur stationierte Staatsbehörde Jagd auf die Radiopiraten. «Etwa 40 Minuten lang konnten wir senden, bis sie uns gefunden haben», so Matthias Knill. Sie hätten die PTT-Wagen mit ihren Sendemasten nicht zuletzt dank der strategisch cleveren, erhöhten Lage auf dem Cholfirst frühzeitig erkannt. Danach musste es schnell gehen. Die Kantischüler nahmen die Beine in die Hand, die PTT hinterher. «Manchmal mussten wir sogar den Sender zurücklassen.»
Obwohl die Flucht jedes Mal gelang, kamen die Piraten nicht ungeschoren davon. So erfolgte auch einmal eine Hausdurchsuchung. «Unser Vater hat nicht schlecht gestaunt», so Matthias Knill. Der Sender wurde zwar nicht gefunden, dafür aber Funkgeräte. Die Busse belief sich auf 800 Franken. «Ganz schön viel Geld damals.» Ob sie das von ihrer musikalischen Mission aufgehalten hat? Mitnichten. «Tutti Frutti» sendete moderne Musik, bis die gemeinsame Schulzeit zu Ende ging.
Wenn Radiostationen heutzutage Kontakt mit ihren Hörern haben, rufen die meist direkt ins Studio an. Oben auf dem Cholfirst undenkbar, zumal das Handy noch gar nicht erfunden war. Trotzdem kamen die Zuhörer im Programm von «Tutti Frutti» zu Wort: Über den Sender wurde die Nummer einer Telefonkabine in Schaffhausen bekanntgegeben. Dort war Julian Schütt vor Ort und hielt ein Funkgerät dicht ans Telefon. Gleiches tat der Moderator Matthias Ackeret auf dem Hügel mit dem Mikrofon, und schon liefen die Zuhörerreaktionen live über den Sender.
Fanpost via Norwegen
Noch um einiges umständlicher gestaltete sich der Umgang mit Fanpost. Wer den Piraten schreiben wollte, schrieb als Adresse ein Postfach in Bergen aufs Couvert. Die Stadt in Norwegen ist rund 2000 Kilometer vom Cholfirst entfernt, aber nur so konnte die Briefpost an der PTT vorbeigeschleust werden. Organisiert wurde der Transport von einem Verein für Piratenradios.
Matthias Knill erinnert sich gerne an seine wilde Jugendzeit: «Es war aufregend, das staatliche Monopol zu durchbrechen und zur Medienvielfalt beizutragen.» Die Zeiten von Piratenradios sind seit der Öffnung des Marktes 1983 vorbei. Auf dem Cholfirst erinnert noch immer eine Gedenktafel an das Treiben der Uhwieser Jugendlichen. Auf ihr steht geschrieben: «An diesem heiligen Ort hat sich Radio ‹Tutti Frutti› für die Freiheit des Äthers aufgeopfert. Möge der Gedanken an diese heldenhafte Tat ewiglich wahren. Fortes fortuna.» Heute darf sich Matthias Knill sogar öffentlich zum damaligen Abenteuer bekennen – die Straftaten des 56-Jährigen und seiner Kollegen sind verjährt.
Radio 24 – von Italien aus gegen die SRG
Wo andere Radiopiraten nur Nadelstiche platzieren konnten, versetzte Radio 24 dem SRG-Monopol innert Kürze den Todesstoss. Und wer hats erfunden? Radiopionier Roger Schawinski natürlich. Nachdem Italien als erstes europäisches Land den Radiomarkt 1976 liberalisiert hatte, deklarierte Schawinski sein Radio 24 drei Jahre später als italienisches Lokalradio und sendete mit einer riesigen Antenne vom Gipfel des Pizzo Groppera, sodass man die Sendungen auch in Zürich hören konnte. 1980 demonstrierten in Zürich über 3000 Personen gegen die Stilllegung von Radio 24. Im Juni 1983 bewilligte der Bundesrat schliesslich Privatradios. (dom)
Als die PTT Piraten jagte