Der ehemalige Flüchtling sagt: «Ohne Arbeit gibt es keine Integration»

Region - Enver Rama prägt seit 20 Jahren die Asylkoordination des Bezirks. Er und seine Frau kamen 1991 selber als Flüchtlinge in die Schweiz. Er kennt also beide Seiten und hat eine klare Meinung. Nun wird er pensioniert.

Roland Spalinger (spa) Publiziert: 04. Februar 2025
Lesezeit: 5 min

Er könnte ein Buch schreiben, sagt Enver Rama. Zum Anfang seiner Pension und zum Ende der beruflichen Karriere wird es immerhin ein Zeitungsbericht. Über ihn und 20 Jahre Asylgeschichte im Bezirk Andelfingen.

Mitte Februar verlässt der 65-Jährige die Asylkoordination des Bezirks Andelfingen, die ein Sonderfall ist. Andernorts im Kanton kümmern sich die Gemeinden einzeln um Geflüchtete. Im Weinland schlossen sie sich vor 27 Jahren zur Bezirkslösung zusammen. Die meiste Zeit prägte Enver Rama deren Geschichte.

Keine Alternative

«Flüchten ist eine Notlösung», sagt Enver Rama. Er und seine Frau hatten studiert und keinen Gedanken daran verschwendet, auszuwandern. Mit dem Abschluss in Betriebsökonomie in der Tasche wollte er einen Job (sein Traumberuf war Lehrer), wurde stattdessen 1986 der politischen Aktivität beschuldigt, verurteilt und für viereinhalb Jahre eingesperrt. «Wir mussten gehen», erzählt er. Die Chance, das Leben zu gestalten, wie man will, habe es damals für ihn im Kosovo nicht gegeben.

Sie wählten die Schweiz, kamen im Oktober 1991 ins damalige kantonale Durchgangszentrum Hotel Bad in Klein­andelfingen und machten sich nützlich. Sie kochten bald für die rund 60 Anwesenden, koordinierten den Ämtliplan. Nach sechs Monaten waren sie anerkannte Flüchtlinge und kamen mit ihrem ersten Kind in Zollikon in einer 4,5-Zimmer-Wohnung unter – mit sieben anderen, «eine WG», sagt er. Weitere Stationen waren Wädenswil, Horgen und Dübendorf, wo sie blieben und vier Kinder grosszogen. Mittlerweile gehören drei Enkel zur Familie. Ihre Kinder haben studiert, Maschinenbau, Biologie, die Jüngste ist im Bereich Soziales tätig wie der Vater.

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Enver Rama und seine Frau 1991 – das Hotel Bad war ihre erste Station in der Schweiz und seine erste Arbeitsstelle bei der Asylkoordination. | zvg

Integration ermöglichen

Der eigene Start war schwierig. Kosovo-Albaner hätten keinen guten Ruf gehabt, sagt Enver Rama. «Jeden Tag musstest du mit Taten zeigen, dass du ein Mensch bist, der will und kann», erzählt er. Französisch konnte er, Deutsch aber nicht. Das Diplom aus Pristina zählte nichts. Er lernte die Sprache, erhielt im Durchgangszentrum der Asylorganisation Zürich (AOZ) eine Anstellung als Betreuer für andere Geflüchtete in der ersten Phase des Asylprozesses.

Enver Rama wurde interkultureller Mediator sowie Übersetzer für Albanisch-Deutsch, oft für Schulen, begann mit der Vermittlung, machte in Luzern ein Nachdiplom als Sozialarbeiter sowie den Master. Als 2005 das Zen­trum des AOZ zuging, tat sich die Möglichkeit in der Asylkoordination des Bezirks Andelfingen auf. Die Adresse der neuen Stelle, Schaffhauserstrasse in Kleinandelfingen, habe ihm noch etwas gesagt.

Seit da ist sein Hauptthema Integration. «Menschen motivieren, beraten und unterstützen, damit sie einen Weg finden.» Eindeutig ist für ihn, dass dieser Weg nur über die Beschäftigung geht – Arbeit und Beruf seien zentral. «Ohne Arbeit gibt es keine Integration», sagt er.

Allein könnten es Asylbewerberinnen und -bewerber nicht schaffen. Aber mit Unterstützung klappe es. Fördern und fordern. Aber je länger der Prozess daure, desto schwieriger werde die Integration. Ein Arbeitgeber müsse nicht wissen, war­um jemand fünf Jahre nicht gearbeitet habe und jetzt Arbeit suche. Ein Fragezeichen sei aber da und somit das erste Hindernis.

In der vermittelnden Rolle im überschaubaren Weinland fühlte sich Enver Rama wohl. Sassen Angestellte in anderen Asylkoordinationen vor allem am PC und waren für Fallführungen zuständig, deckte er den ganzen Bereich ab: von der Wohnraumsuche bis zu Kontakten mit Ortsverantwortlichen, Gemeinden, Schulen, Gewerbe und Polizei. An Sitzungen mit Leuten aus seiner Branche witzelte er jeweils, sie würden sogar das Brot selber backen, erzählt er und lacht. Die Vielseitigkeit seiner Arbeit ist mit ein Grund, dass er sie so lange machte.

Vor allem Familien

Armut, Krieg, Perspektivenlosigkeit, Verfolgung. Die Gründe, war­um Menschen flüchten, sind vielschichtig. Enver Rama kennt sie. Und er kennt die Wellen, die Konflikte auslösen, die letzte 2022 mit dem Krieg in der Ukraine, die «alles geändert hat, was Zahlen angeht». Während seiner 20 Jahre in der Bezirkslösung kamen zu 80 Prozent Familien, jedes Jahr 60 bis 80 Schulkinder. 60 bis 70 Prozent der Geflüchteten würden sich integrieren lassen, 80 Prozent der Kinder. Das sei gut für die Menschen selber, aber auch für die Schweiz.

Das Schönste für ihn: Wenn die Personen unabhängig von der Fürsorge leben können. Sozialhilfe sei eine gute Sache, für eine gewisse Zeit, bis man so weit sei, zu leben, wie und wo man wolle. Nebst Rechten gebe es Pflichten, das habe er immer wiederholt. Er als ehemaliger Flüchtling betreut andere Flüchtende – das habe Vor- und Nachteile, sagt er. Seine Freude sei, die Menschen zu unterstützen, damit sie den Weg fänden. Er habe alle Ener­gie­ gegeben und sich maximal eingesetzt, dass sich Menschen integrieren liessen. Wobei «lassen» zentral sei, es setze das Zutun der Asylsuchenden voraus. «Probleme gibt es immer.»

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Als «gravierend» bezeichnet er Flüchtlingswellen, zum Beispiel im Mai 2012 als ihnen 20 Asylsuchende zugewiesen wurden und innert zehn Tagen Unterkünfte bereitgestellt werden mussten. Mit dem damaligen Präsidenten der Arbeitsgruppe Asyl des Bezirks, Martin Farner (stehend), brachte Enver Rama (mit Mütze) zwei Familien in der Zivilschutzanlage in Andelfingen unter. | zvg

Dankbarkeit und Anerkennung

Seit 2008 ist der Kosovo unabhängig und wird von verschiedenen Staaten anerkannt, auch von der Schweiz. Der junge Staat sei gut unterwegs, findet Enver Rama, nicht vergleichbar mit früher. Pristina sei immer eine Stadt gewesen, nun aber eine Metropole geworden. Teile ihrer Familien lebten dort, zwei- bis dreimal jährlich reisten sie selber hin. Die Verbindung sei stark. Aber er sei auch Weinländer geworden. Er kenne jede Ecke und die Wurzeln würden sich weiter verdichten. «Ich fühle mich hier zu Hause.»

Menschen haben Ressourcen. Manche brauchen eine zweite Chance.

Enver Rama ist der Schweiz dankbar für die Möglichkeiten, die ihm das Land bot und die Werte, die er weitergeben und damit Tausende glücklich machen konnte. «Menschen haben Ressourcen. Manche brauchen eine zweite Chance.»
 
Mit der alten Heimat ist er im Reinen. Und seit etwa zehn Jahren fühlt er sich als Kosovo-Albaner nicht mehr stigmatisiert. Denn in der neuen Heimat sind Landsleute heute in allen Bereichen tätig. Nicht nur im Fussball die Xhakas und Shaqiris. Der erste in diesem Bereich war Milaim Rama, mit dem er jedoch ebensowenig verwandt ist wie mit dem albanischen Premier Edi Rama. Das würde Enver Rama in seinem Buch auch erwähnen.