Weinland

Die Anziehungskraft des Archaischen

Bogen sind neben Speeren die ältesten Distanzwaffen der Menschheit. Michael Zahn baut und schiesst archaische Bogen aus einem massiven Stück Holz. So, wie sie schon in der Steinzeit genutzt wurden.

von Silvia Müller
16. Februar 2021

Heutige Hightech-Pfeilbogen sehen kompliziert aus, mit verschiedensten Materialien und Komponenten wie Umlenkrädern, Visieren, Wölbungen nach vorne und hinten, verschalten Griffen und weiteren für Laien unverständlichen Extras. Damit schies­sen die Sportler beeindruckende Rekorde. Doch das ist nicht das, was Michael Zahn reizt.

«Historical» oder «Primitive bow» heisst seine Sportkategorie. Er trainiert im Verein in Frauenfeld, möglichst zweimal pro Woche. Momentan geht das nicht. Umso mehr Zeit verbringt er in der Werkstatt mit dem Bauen von Langbogen. Eine ganze Arbeitswoche braucht er, bis auch das Finish stimmt.  Kaum ist einer fertig, juckt es ihn, das nächste Projekt anzupacken.

Mit der Erfahrung wachse eben der Ehrgeiz, sagt er und lacht. So wie ihn packe es aber nur ganz wenige. «Viele Schützen fühlen sich zu traditionellen Bogen hingezogen, doch sie kaufen sie sich.» Nicht er. Je digitaler sein Beruf als Offsetdrucker werde, umso mehr ziehe es ihn in die Werkstatt. Seit seiner «Initiation» 2014 hat er schon fast alle Holzarten ausprobiert, die als geeignet gelten. Nun kennt er ihre Schwächen und Stärken.

Jedes Stück Holz ist einzigartig
Schon das Aussuchen des Rohholzes erfordert viel Erfahrung. Die Bogenbauer achten besonders auf die Ausdehnung der weichen und harten Jahrringe. Die Eibe gelte seit alters her als bevorzugtes Bogenholz, doch sie sei «zickig» zu verarbeiten und reisse auch später beim Spannen unvermittelt – das könne gefährlich werden, erzählt er. Erst seit 400 Jahren kennt man in Europa die Robinie, die sich deutlich besser für den Bogenbau eigne. Auch ein gut gewachsenes Stück Esche sei nicht schlecht. Am besten sei aber «Osage orange», der aus Amerika stammende Milchorangenbaum.

 «Besonders schön am Osage orange ist der natürliche, seitlich gekrümmte Wuchs», sagt Michael Zahn. Er zeigt auf seine daraus gefertigen Langbogen, die von vorne betrachtet alle irgendwie seitlich verzogen und krumm aussehen. Sind die missraten? «Nein, überhaupt nicht! Bogen könnten von vorne sogar aussehen wie kriechende Schlangen, auf ihre Schuss­eigenschaften hätte das keinen Einfluss.»

Hauptsache Spannkraft
Im Fall von Osage-Holz seien krumme Linien und ungleichmässig breite Stellen sogar normal, weil der Baum viele dornige Äste bilde. «Beim Schnitzen arbeiten wir um die unregelmässigen Stellen herum. Verdickungen und Ast­augen beispielsweise lassen wir stehen und machen den Bogen an der Stelle entsprechend breiter. Wichtig ist bloss, dass der gespannte Bogen zuletzt überall dem Zug standhält.» Wie das Endprodukt aussehe, stelle sich also erst beim allmählichen Abschälen der nicht gewünschten Schichten heraus.

Manchmal muss er den Griff mit verleimten Holzschichten aufbauen, weil der Rohling dort nicht genug Material hat. Solche Techniken kommen bei modernen Bogen oft sogar auf der ganzen Länge zur Anwendung. «Häufig wird auch Fiberglas in die Schichten verleimt. Solche Bögen sind leistungsfähiger als massive Holzbögen und erleichtern ein sauberes Schussbild.» Einfach gesagt: So verstärkte Bögen führen mit weniger Kraft zur erwünschten Pfeil­geschwindigkeit.

Sehnen, Federn, Horn, Flachs, Filz …
Der Teufel steckt wie so oft im Detail. Michael Zahn erzählt vom Schleifen, Polieren und Ölen, von den Horneinlagen an den Enden, wo die Sehne eingehängt wird. Von den (ebenfalls selbstgebauten) Pfeilen aus Nadelholz, die mit jeweils drei Federn vom gleichen Vogelflügel bestückt sein müssen, damit sie den gleichen Drall haben und sich sauber um die eigene Achse und dem Bogen entlang zum Ziel schrauben.

Und er erzählt lachend von seinen ersten Erfahrungen mit unbekannten Materialien wie Leder (für den Köcher) und Filz: «Sogar den Pfeilbeutel wollte ich nach echter Ötzi-Manier selbst machen und habe dafür stundenlang Wolle mit Seife gewalkt. Was für ein Krampf! Wenigstens war der Küchenboden nachher blitzsauber.»

Keine weichgespülten Bedingungen
Nun hofft er, dass es 2021 wieder ei­ne Turniersaison gibt, wo er seine selbstgebauten Bogen einsetzen kann.

«Primitive Bows misst man an 3D-Turnieren, wo im freien Gelände und bei jedem Wetter lebensgros­se Tierattrappen aus 5 bis 54 Metern getroffen werden müssen.» Also auch hier: Fürs Training sind Hallen und Kunstlicht okay. Doch im Ernstfall sollte man auch mit natürlichen Bedingungen zurechtkommen.

«Das» Erfolgsmodell der Waffengeschichte

Bei Schusswaffen sind die Reichweite und die Durchschlagskraft entscheidend. Schon die altsteinzeitlichen Jäger legten ihre Speere in einfache Speerschleudern ein und konnten sie damit doppelt so weit schleudern wie mit blosser Körperkraft. Einige Tausend Jahre später entwickelten die Steinzeitmenschen eine noch effektivere Abschuss­methode für ihre Pfeile: Der menschliche Krafteinsatz wird noch viel stärker vervielfacht und gebündelt, wenn man damit eine Sehne und zwei Bogenarme spannt, welche die ganze blockierte Energie auf einen Schlag auf ein Geschoss übertragen.

Das Prinzip Pfeilbogen war auf allen Erdteilen verbreitet und wurde je nach Verwendungszweck verändert und verbessert. Jahrtausendelang gehörten die Bogenschützen zu den gefürchtetsten Truppen im Krieg. Sie konnten die Feinde aus sicherer Distanz mit Pfeilen übersäen und selbst gepanzerte Pferde und Reiter ins Chaos versetzen.

Bogenschützen waren wertvolle Spezialisten. Sie wurden von Kind an ausgebildet und trainiert und entwickelten oft grotesk einseitige Muskulaturen mit ungleich langen Armen. In Kriegsgefangenschaft schnitt man ihnen regelmässig als Erstes ihr Kapital ab – die drei zum Spannen nötigen Finger. Erst die Erfindung der Feuerwaffen ab 1380 manövrierte die bis dato gefährlichste Waffengattung allmählich in die Abteilung «Sport und Freizeit». (sm)

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