Seit 36 Jahren aktiv
Der Entlastungsdienst ZĂĽrich unterstĂĽtzt seit 36 Jahren betreuende Angehörige, letztes Jahr hat der gemeinnĂĽtzige Verein das Angebot erweitert. Sabine und Tom Keller-Berger sind einer von rund 400 HausÂhalten, die die Hilfe in Anspruch nehmen. «Wir sind eine Non-Profit-Organisation und bieten unkomplizierte, gute und bezahlbare UnterstĂĽtzung an», schreibt der Verein. Im Bulletin vom Juni 2019 ist die Geschichte von Sabine, Tom und Alisha Keller zu lesen. Die Eltern hatten sechs Jahre nach der Geburt ihrer Tochter den ersten Tag zusammen. «Solche RĂĽckmeldungen bestärken uns in unserer Arbeit», schreibt GeschäftsfĂĽhrerin Sarah MĂĽller. (spa)
Dass es ein Mädchen wird, wussten Sabine und Tom Keller-Berger. Nicht aber, dass Alisha das Down-Syndrom hat. Sie hätten auf eine pränatale Diagnostik verzichtet, «weil es auf unsere Entscheidung keinen Einfluss gehabt hätte.»
Alisha kam per Kaiserschnitt zur Welt. Aufgrund ihrer Körperspannung und SymÂptoÂmen an Händen und Zehen äusserten Ă„rzte den Verdacht, sie habe das Down-Syndrom. Das Mädchen kam in die Neonatologie, brauchte Sauerstoff und wurde später am Herzen operiert. Im gebuchten Familienzimmer im Spital waren die Eltern dann allein – was ging ihnen durch den Kopf? Er sei emotional ĂĽberfordert gewesen und habe sich gefragt, was das fĂĽr sie alle heisse, sagt Vater Tom, von Beruf Gemeindeschreiber. Seine Frau Sabine, ausgebildete Sozialpädagogin, wollte sich beruflich neu orientieren und wusste: «Das Kind ist jetzt meine neue Aufgabe.» Der Chromosomentest eine Woche nach der Geburt bestätigte den Befund.
Behinderte nicht behindern
Kein Hadern oder Klagen, nachdem sie so lange auf ihr erstes Kind gewartet hatten? Das gläubige Paar verneint, schaut sich an – und auch wenn es kitschig oder gar abgedroschen töne: Sie möchten es nicht anders, «die Freude ist himmelhoch», so Tom Keller (44). Alisha sei aber auch ein einfaches Down-Syndrom-Kind, ergänzt Sabine (43). Die Siebenjährige besucht den Kindergarten in der HPS Humlikon und kennt bereits Buchstaben.
Vor allem aber ist sie freundlich, aufgestellt, einfühlsam, interessiert, ausgeglichen, auf Menschen bezogen und herzlich – sie sagt, sie sei stolz auf die Eltern und fragt, wie es auf der Arbeit war, wie es diesem Onkel gehe und jener Tante. Fragen habe sie viele, erzählen die Eltern. Nie hätten sie ihre Fragen abgetan damit, sie sei behindert und checke es eh nicht. «Wir wollen sie nicht limitieren», sagt Tom Keller.
Immer ausräumen
NatĂĽrlich gab es schwierige Zeiten, belastende auch. Die ersten fĂĽnf Jahre schlief Alisha bloss fĂĽnf Stunden, «die restliche Zeit war sie aktiv», sagt Sabine Keller-Berger. Und das Kind hatte nicht nur Ideen, es setzte sie auch schnell um. Schränke und Schubladen ausräumen machte ihr lange sehr viel Freude. War um 22 Uhr Nachtruhe, ging das Programm um 3 Uhr wieder los – eine Belastung, die nur zu zweit zu meistern war. Oft ĂĽbernahm der Vater die AbendÂbetreuung, die Mutter stand dafĂĽr frĂĽh morgens im Einsatz.
Sabine und Tom Keller-Berger akzeptierten nicht nur, dass gut gemeinte Tipps wie Auf-den-Rhythmus-achten für ihre Situation wenig Bedeutung haben, sie wiesen auch professionelle Stellen darauf hin. Zum Beispiel als eine Physiotherapeutin dem Kind das Kriechen beibringen wollte, Alisha aber nur schrie. «Mit Druck geht nichts», sagt Sabine Keller-Berger. «Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.» Alisha gebe das Tempo vor. Die Kunst sei, zu merken, wann sie in ihrer Entwicklung einen weiteren Reifeschritt gemacht habe oder parat dazu sei, und sie dann darin zu unterstützen und zu fördern.
UnterstĂĽtzung angenommen
Sabine Keller-Berger hat beruflich nicht mit Beeinträchtigten gearbeitet. Und doch hat ihr ihre Ausbildung im Umgang mit Alisha geholfen, und sie weiss, wo sie Hilfe erhält. Dass sie selber mal eine Pause oder ein bisschen Abstand braucht, darauf wurde sie jedoch von der heilpädagogischen Früherziehung aufmerksam gemacht. Physiotherapie, Logopädie, Arzt – teilweise hatten sie Wochen mit 20 Terminen.
Seither nehmen sie die Hilfe des Entlastungsdiensts regelmässig in Anspruch, vor allem, wenn beide arbeiten, aber auch, um mal auszugehen. Das heisst, sie leisten sie sich. Ähnlich wie bei einer Kita oder einem Babysitter fallen Kosten an, bei ihnen sind es 25 Franken pro Stunde. Geld, das sie gezielt und wenn möglich geplant einsetzen.
Am Anfang war für Sabine Keller-Berger nur schon besonders, eine Stunde für sich zu haben, um einen Kaffee zu trinken, ohne ständig präsent zu sein. Mit zunehmendem Vertrauen in die Frau aus der Umgebung – «ein Glücksfall», wie beide sagen – gönnten sie sich auch mal einen Abend.
So selbständig wie möglich
Als sie nach Humlikon zogen, erwarteten sie noch kein Kind und wussten nicht, wie perfekt sie ihren Wohnort gewählt hatten. Alisha ist im Dorf gut integriert, sie hätten auch immer Kinder zu sich eingeladen und sie werde eingeladen. Wenn Sabine Keller-Berger die Spielgruppe leitete oder den Eltern-Kind-Treff, war Alisha bis zum Kindergarteneintritt auch dabei. Allein über die Strasse kann sie nicht, zu Fuss mit Nachbarskindern zum Kindergarten aber schon. Ihre Wege trennen sich dann erst kurz vor dem Schulhaus – Alisha geht in die HPS und kann dies tun, bis sie 18 ist, die anderen gehen in die Volksschule.
Die HPS mit ihren Angeboten sei eine grosse Entlastung, die zu Beginn der Corona-Zeit schmerzlich vermisst wurde – von den Eltern, aber auch vom Kind. Ohne diese tägliche Herausforderung fehle Alisha die gesunde MĂĽdigkeit. Den Entlastungsdienst nahm die Familie in dieser Zeit vermehrt in Anspruch. Einerseits zĂĽgelte die Familie in eine andere Wohnung in Humlikon, andererseits arÂbeiÂteÂte Sabine Keller-Berger wegen Corona bis zu 50 Prozent als Sozialpädagogin, und sämtliche anderen Hilfen fielen aus. Seit den Lockerungen brauchen sie den Dienst nur noch sporadisch.
Auch auf die Unterstützung von Grossvätern können sie wieder zählen. Das freut diese, aber auch Alisha. «Ich habe dich so vermisst», habe sie beim ersten Wiedersehen gesagt. Alisha gibt sehr viel, sagen Sabine und Tom Keller-Berger und fühlen sich sehr beschenkt. Das Kind nimmt aber auch viel. Davor scheuen sich viele. Neun von zehn Kindern mit Down-Syndrom werden abgetrieben.
Eine Lebensaufgabe angenommen