Mit den Jägern durchs Jahr
Während eines Jahres beschäftigt sich die «Andelfinger Zeitung» regelmässig mit dem Thema Jagd, begleitet die Jäger bei ihrer Arbeit und beleuchtet Hintergründe. Tanja und Roman Bichsel bilden den dritten Teil dieser Serie.
Weiblich, 31 Jahre jung, Tierarztassistentin, Mutter eines Sohnes: Tanja Bichsel zählt nicht zu den Personen, die die gängigen Jägerklischees erfüllen, und somit von der Allgemeinheit als angehende Waidfrau erkannt würde. Und sie ist nicht die einzige: Immer mehr Frauen absolvieren die Jagdausbildung, wie die Statistik von Jagd Zürich zeigt. Der Verein führt die Anwärterkurse durch und begleitet die angehenden Jäger bis zur Theorieprüfung. «Im Ausbildungsjahr 2019/2020 waren 27 Prozent der insgesamt 48 Anwärter weiblich», sagt Samuel Ramseyer, Lehrgangsleiter des Theoriekurses.
Zudem werden die Anwärter tendenziell jünger. Bei Jagd Zürich betrug das Durchschnittsalter in den letzten vier Jahren zwischen 35 und 40 Jahren, 28 Prozent waren unter 30 Jahre alt. Urs J. Philipp, Abteilungsleiter der kantonalen Fischerei- und Jagdverwaltung und somit höchster Zürcher Jäger, bestätigt diesen Trend. «Das Alter der Kandidaten hat in den letzten Jahren eindeutig abgenommen.» Doch weshalb interessieren sich junge Menschen für die Jagd? «Eine wichtige Komponente ist sicher, draus-sen in der Natur zu sein und etwas über sie zu erfahren», vermutet Urs J. Philipp. In unserer hochtechnologisierten Welt suche man vermehrt nach dem Ausgleich und den Erlebnissen im Grünen.
Wie der Vater, so die Kinder
Diese Aussage trifft auch bei Tanja und Roman Bichsel zu. «Im Wald kann ich Kraft tanken. Es ist wie eine Meditation», so der gelernte Bootsbauer Roman Bichsel. Und seine Schwester Tanja: «Nur schon der theoretische Teil der Jagdausbildung hat mir sehr viel gebracht. Ich verstehe die Zusammenhänge in der Natur viel besser.» Die Naturverbundenheit kommt nicht von ungefähr, ihr Vater ist seit ihrer Kindheit passionierter Jäger. Er habe sie zwar nie zum Jagen mitgenommen, jedoch regelmässig auf ausgedehnte Streifzüge durch den Wald. Beide haben die Natur dabei lieben gelernt.
Etwas, das Tanja Bichsel nun auch ihrem Sohn weitergeben möchte und das ein wichtiger Grund war, weshalb sie die Jagdprüfung in Angriff genommen hat. «Ich möchte ihm etwas über den Wald und die Tiere, die darin leben, erzählen können.» Während der Vorbereitung auf die Theorieprüfung habe sie sich sehr viel Know-how aneignen können über die einheimischen Pflanzen, die Wildtiere und ihren Lebensraum. Die Spaziergänge mit ihrem bald vierjährigen Sohn seien dadurch bewusster geworden. Hier ein Wildwechsel, da eine Schlafmulde von Wildschweinen oder von Rehen abgefressene Zweige: Zu entdecken gibt es an jeder Ecke etwas. Nur gehen viele achtlos daran vorbei.
Corona als Hindernis
In der Schweiz ist die Jägerausbildung in zwei Abschnitte aufgeteilt und dauert in der Regel rund drei bis vier Jahre. Im ersten Teil befasst sich der Kandidat mit den jagdtheoretischen Grundlagen sowie der Schiessfertigkeit und legt die Anwärterprüfung, bestehend aus einer Theorie- und einer Schiessprüfung, ab. Im zweiten Abschnitt eignet er sich die jagdpraktischen Erfahrungen an, indem er eine zwei- bis maximal sechsjährige «grüne Lehre» in einem Jagdrevier absolviert. Diese endet mit einer praktischen Prüfung, der Jägerprüfung.
Tanja und Roman Bichsel befinden sich im ersten Abschnitt der Ausbildung. Die Theorieprüfung haben sie im April 2019 bestanden. Als Vorbereitung hätten sie einen Kurs am Strickhof in Wülflingen besucht und während sechs Monaten in jeder freien Minute gelernt – mindestens gleich viel wie auf die Lehrabschlussprüfungen hin, erinnern sie sich.
Im September desselben Jahres hat Roman Bichsel auch die Schiessprüfung abgelegt. Diese ist Voraussetzung, um in die «grüne Lehre» zu starten. Der Henggarter ist nun stolzer Stift im Revier Hettlingen-Dägerlen und konnte bereits bei mehreren Jagden und weiteren Arbeiten erste praktische Erfahrungen sammeln.
Nicht so Tanja. Die Coronakrise durchkreuzte ihre Pläne. «Eigentlich wäre ich im Mai für die Schiessprüfung angemeldet gewesen, doch situationsbedingt wurden alle Schiessstände geschlossen.» Sie hofft nun, dass sie den Test im September nachholen darf. «Dann könnte ich bei den Treibjagden im Herbst das erste Mal als Jungjägerin anstatt als Treiberin teilnehmen.»
Schiessen ist nur ein kleiner Teil
Doch nicht alle reagieren begeistert, wenn sie von ihrem Entschluss, Jägerin zu werden, erfahren. Einen Satz, den Tanja Bichsel immer wieder hört: «Während deiner Arbeit im Tierspital und in der Tierarztpraxis rettest du Tausenden von Tieren das Leben, in deiner Freizeit erschiesst du sie?» Paradox sei dies nicht, sagt sie. Denn bei der Jagd gehe es um viel mehr als nur ums Schiessen.
Wild zu erlegen sei in Wirklichkeit der kleinste Teil. Die Jäger würden viel für die Umwelt machen, Wildschäden verhindern, die Natur- und Lebensräume erhalten und pflegen und dafür sorgen, dass die Tierbestände gesund und die Artenvielfalt erhalten blieben. Auch angefahrenem oder verletztem Wild würden sie nachsuchen und es von seinen Leiden erlösen. Da seien dann sogar Parallelen zu ihrer beruflichen Tätigkeit zu sehen. «Man darf kein Lebewesen leiden lassen».
Für ihren Bruder Roman Bichsel steht das Draussensein und das Erlebnis in der Natur an erster Stelle. «Wenn man stundenlang im Wald verharrt, sieht man viel.» Manchmal sei schon eine Prise Abenteuer dabei, zum Beispiel, wenn man mitten in der Nacht durch den dunklen Wald einer Wildschweinrotte nachgehe. Noch viel häufiger sei es aber Entspannung pur. Bei der Jagd vergesse er alle Gedanken und Sorgen. Sehr häufig sei er auch ohne Gewehr unterwegs und beobachte die Veränderungen in der Natur und die Tiere. «Ich möchte keine Trophäen jagen, sondern nachhaltig etwas Sinnvolles für die schönen Lebensräume vor unserer Haustüre tun.»
Wichtig ist dem 29-Jährigen auch der Genuss von fair produziertem Fleisch. Sechs Jahre seines Lebens war er Vegetarier. Die Zustände in der Massentierhaltung und die Art der Schlachtung beschäftigen ihn auch heute noch. «Ich bin ein sehr bewusster Fleischesser.» Viele Menschen würden die Jagd verabscheuen, da Lebewesen erlegt werden. Dabei verdrängten sie, dass auch für ihre Bratwurst ein Tier sterben musste und es in vielen Fällen zuvor kein schönes Leben hatte. Deshalb schätze er ein Stück selbstgeschossenes Wildbret sehr. «Da weiss ich, dass das Reh sein Dasein in der freien Wildbahn geniessen konnte und sauber erlegt wurde. Es wurde nicht nur als Nahrungsmittel gezüchtet.»
«Gleich viel gelernt wie auf die LAP»