Weinland

In 25 Tagen nach Wladiwostok

Mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhren Anni und Roland Meier von Moskau nach Wladiwostok. Eine Reise, die mehr beinhaltet als essen, schlafen und aus dem Fenster schauen.

von Evelyne Haymoz
22. September 2020

Es ist die längste Zugstrecke der Welt: 9288 Kilometer mit der Transsibirischen Eisenbahn. Anni und Roland Meier liessen sich Zeit. Von ihrer Haustüre in Oberneunforn via Berlin und Moskau bis zu ihrem Ziel in Wladiwostok waren sie 25 Tage lang mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Vergangene Woche berichteten sie davon in der heimischen reformierten Kirche. 70 Gäste waren zugegen und genossen die Bilder und Videosequenzen von 2019, als das Reisen noch ohne Quarantäne möglich war.

Während eines halben Jahres bereitete sich das Ehepaar vor und organisierte Zugtickets, Übernachtungen und Reiseleiter. Fast ebenso lang besuchten sie einen Kurs in «russischer Sprache und Kultur». Ein echter Türöffner, wie Anni Meier zu verstehen gab. Die beiden lernten dort nicht nur, das kyrillische Alphabet zu lesen, sondern erfuhren auch einiges über die russische Gesellschaft. Die Frauen haben das Sagen, wiederholte sie das Gelernte. Vermutlich gründe dies auch im berüchtigten Alkoholkonsum etlicher russischer Männer. Für die Frauen sei es klar, dass sie arbeiten und das Familienbudget beisammen halten müssten. Entsprechend resolute Verkäuferinnen konnten Anni und Roland Meier später auf den Märkten beobachten.

Der graue Rote Platz
Im Juni 2019 setzte sich das Ehepaar Meier mit seinem Gepäck in ein Postauto in Oberneunforn und fuhr später mit der Bahn Richtung Norden nach Berlin, von dort weiter nach Osten. Eingepackt hätten sie das Übliche, viele Lebensmittel und drei Bücher. Für den Fall, dass es ihr langweilig würde, sagte Anni Meier.

Das erste Etappenziel, Moskau, erreichten sie nach etwa 35 Stunden und just am 12. Juni, dem russischen Nationalfeiertag. Feuerwerk zierte den Himmel über dem Roten Platz (Krasnaja plošcad), was früher «schöner Platz» bedeutete. Seinen Namen verdankt er einer irrtümlichen Übersetzung. Das russische Adjektiv «krasny» bedeutete ursprünglich sowohl «rot» als auch «schön». Heutzutage wird es in der Alltagssprache nur mehr als «rot» gebraucht, wie auch Wikipedia verrät. In der Hauptstadt gibt es also einen «Roten Platz», der in Wirklichkeit grau ist. In Moskau bestiegen die beiden Oberneunforner die Transsibirische Eisenbahn, auch Transsib genannt. Mit dem Bau dieser Strecke wurde Ende des 19. Jahrhunderts begonnen. Seit Dezember 2002 ist die Bahn vollständig elek­trifiziert.

Während ihrer Reise mit der Transsib passierten die beiden acht verschiedene Zeitzonen und mussten immer wieder herausfinden, ob jeweils die Ortszeit oder die Moskauer Zeit angezeigt wurde. Das Entziffern der kyrillischen Ladenanschriften fiel ihnen deutlich leichter. «Einmal lasen wir «Sandwichi» und verstanden auf Anhieb, was wir in dem Geschäft erhalten würden», berichtete Anni Meier. Mit grundlegenden Sprachkenntnissen war bereits viel gewonnen.

Thaisuppe dank Samowar
Das Ehepaar wählte nicht die schnellste Verbindung, die sie in sieben Tagen und sechs Nächten von Moskau nach Wladiwostok gebracht hätte. Mehrmals verliessen sie den Zug, um Städte wie Kasan, Jekaterinburg und Irkutsk zu besichtigen. Dort besuchten sie Museen und die übergrossen Büsten von Lenin und anderen prägenden Politikern. Ein moskauisches Monument mit Peter dem Grossen ragt knapp 100 Meter in den Himmel. Auch einen Halt am Baikalsee, dem tiefsten, ältesten und wasserreichsten Süsswassersee der Erde, liessen sie sich nicht nehmen. Die Billette für die einzelnen Streckenabschnitte erwarben sie vor Reiseantritt in Lausanne. Übernachtet haben sie in Hotels, achtmal aber auch im Zug. Es war lohnenswert, nachzufragen, ob eine Mahlzeit inbegriffen sei. War sie das nicht, brühten sie in ihrem Abteil mit dem «süttig heissen» Wasser aus dem Samowar etwas an. Den Heisswasserbereiter fanden sie am Ende jedes Bahnwagens. «Wir genossen Thaisuppe, Thonsalat, Kartoffelstock und mehr», zählte Anni Meier auf.

Die beiden 62-Jährigen strahlen, wenn sie sich an ihren Trip in den Osten erinnern. «Wir reisen gerne, auch mit dem Velo in Etappen dem Rhein entlang, aber die Transsib war ein Highlight», sind sich die beiden einig. Auch die zahlreichen im Zug verbrachten Stunden seien kurzweilig gewesen. Ist ihr die Lektüre ausgegangen? Anni Meier lachte und winkte ab: «I wo. Ich sagte mir, dass ich nur einmal im Leben durch diese Landschaft mit ihren Weiten und an Datschen (Gartengrundstücke) vorbeifahre, deshalb wollte ich sie mir auch ansehen. Eineinhalb Bücher habe ich ungelesen nach Oberneunforn zurückgebracht.»

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