Weinland

Symbiotische Liaison: Hut & Mensch

Die Hut­macherin Myrtha Kriemler hat früher ganzen Opernensembles die Köpfe bedeckt. Jetzt stattet sie Individuen aus.

von Silvia Müller
02. Februar 2021

Solche Altstadtgeschäfte sind selten geworden. Wo der Schritt über die Schwelle in eine andere Welt führt und die Augen sich zuerst einmal in der Fülle des Angebots verirren. In Myrtha Kriemlers Hutladen an der Steinberggasse steht die Zeit still, und das muss so sein. Denn es braucht Musse, bis genau der richtige Hut seinen Weg auf den Kopf findet. Zu Hunderten stapeln sich dort Kopfbedeckungen für Frauen und Männer auf der Suche nach Schönheit, Qualität und Beratung. All das kann die Modistin Myrtha Kriemler anbieten.

Und sollte das Traummodell doch nicht dabei sein, kann sie hinten im Atelier fast jeden Wunsch erfüllen. Dort realisiert sie seit 13 Jahren die Anpassungen, die Massanfertigungen und vor allem auch ihre spontanen Eigenkreationen: Sie zieht Rohlinge aus Haarfilz mit Dampf über blankgewetzte Holzformen, sie näht, flicht, walkt, stickt, giesst … die quirlige Frau erklärt mit Begeisterung all die möglichen Techniken und Materialien.

Milano, Via Monte Napoleone
Seit der Lehre als Modistin wollte Myrtha Kriemler beruflich nie mehr etwas anderes machen. Als Erstes arbeitete sie 18 Jahre lang an der ersten Adresse Mailands. Das Atelier Gallia e Peter, damals noch an der Via Monte Napoleone, zählte Prinzessinnen und Filmstars zu seinen Kundinnen. Gleichzeitig war es zuständig für die bis zu 1800 Kopfputze aufs Mal von Aufführungen in der Scala und Opern in der Arena von Verona.

Ihre profunden Berufskenntnisse waren im Land der Mode hochwillkommen: «Das italienische Ausbildungssystem kennt keine Lehre. Deshalb sind dort keine umfassend ausgebildeten Hutmacher und Modisten zu finden. Sie machen vieles ‹Handgelenk mal Pi›.» Das war vor 31 Jahren. Bald ist auch die Schweiz soweit: In Basel beendet gerade die letzte Frau ihre Lehre. «Danach gibt es keine Ausbildungsplätze mehr im Land. Sicher, es wird Quereinsteiger geben, doch das Berufswissen geht verloren.»

Die Männer haben es entdeckt
Dabei sei die Nachfrage gut, sagt die Handwerkerin. «Besonders meine eigenen Kreationen werden laufend und mit Wertschätzung gekauft.» Erstaunlicherweise wüssten zurzeit vor allem die Herren ganz genau, was sie auf dem Kopf tragen wollen. «Seit einiger Zeit fragen auch wieder junge Männer nach Mützen, Bérets und Hüten. Diesen Trend spüre ich seit den Retro-Serien auf Netflix und SRF.»

Sie zeigt ein massgefertigtes Herrenbéret aus Anzugstoff, das zur Abholung bereitliegt. Den Stoff hat ein Winterthurer Herrenausstatter geliefert, der seine Kunden auf Wunsch von Kopf bis Fuss einkleidet. Um diese stilbewusste Stammkundschaft ist Myrtha Kriemler froh. In der Zwischensaison, wenn keine Nachfrage nach Winterhüten und Kappen oder Sommerhüten besteht, sorgt das für Einnahmen.

Hut und Träger finden sich
Bis in die 1960er-Jahre gehörten Kopf­bedeckungen aller Art zu jedem gepflegten Damen- und Herrenoutfit. «In England und Frankreich ist das heute noch so, aber in der Schweiz haben die Frauen leider nicht mehr das Selbst­bewusstsein dafür», sagt Myrtha Kriemler. «Sehr schade, denn ein Hut erfordert nicht nur Selbstbewusstsein, er verleiht es gleichzeitig auch.»

Sie liebe den Moment, wenn sich Menschen, die «nur gucken» wollten, glücklich mit ihrem neuen Hut auf dem Kopf verabschieden und stolz hinaus­treten. «Sie spüren genau die Wirkung auf sie selbst und auf ihr Gegenüber. Hut und Träger haben sich gefunden.»

Frauen erliegen dem Fascinator
Für festliche Garderobe geben Schweizer Frauen heute oft dem Fascinator den Vorzug, einem Reif mit Haarschmuck aus Stoffblüten, Bändern, Federn, Perlen, Spitzen, Tüll oder einem festgesteckten Minihütchen. Myrtha Kriemler streift sich einen über die Schläfen. «Fascinators werden im Moment sehr gerne getragen.»

Ihr ist auch das recht. Sie liebt auch diese filigranen Produkte ihres Handwerks. Ob Hut, Schirmkappe, Béret oder Fascinator – sobald der Lockdown vorbei ist und die Wärme zurückkommt, hofft sie, von allem viel zu verkaufen. Das erlebte sie am Ende des ersten Lockdowns. «Die Altstadt und Geschäfte waren voller Menschen, die sich etwas Gutes tun und sich freuen wollten.» Bis dahin füllt sie ihr Lager mit guter Handelsware und Eigenkreationen.

Mutprobe Hutprobe

Heute und hierzulande soll eine Kopfbedeckung vor allem schützen. Als reiner Schmuck getragen, gilt sie schnell als eitel. Wer auf dem Kopf Ed­leres als eine Kappe trägt, fühlt sich leicht auffällig und overdressed. Dabei war die passende Kopfbedeckung während Jahrhunderten unerlässlich für jede ernstzunehmende Garderobe.

Die Hutmode schwang sich immer wieder zu bizarren Höhepunkten auf. Letztmals vor 1900, als riesige Krempen mit Garnituren en vogue waren. Sie glichen Obstschalen und Blumensträussen und konnten sogar von ausgestopften Tieren gekrönt sein – der Hutgarnituren wegen mussten auch schon besonders schöne und seltene Vogelarten per Gesetz vor der Ausrottung geschützt werden.

Diese Extravaganzen verschwanden um 1900 – mit den Korsetts und Wespentaillen. Nicht aber die Hüte an sich: Noch in den Siebzigern waren Schlapphüte modern, in den Achtzigern Lady Dianas Stil; erst seit den Neunzigern war – nichts mehr. Aktuell sind höchstens Baseballkappen und Strickmützen (und Hoodies) wirklich massentauglich. Wie viel Vielfältigeres und Zweckmäs­sigeres es gäbe, beweist ein gut sortierter Hutladen. (sm)

War dieser Artikel lesenswert?

Zur Startseite

Zeitung Online lesen Zum E-Paper

Folgen Sie uns