Was immer in Erinnerung bleibt
von Silvia Müller (sm), Redaktorin
Seit Kinderchen ins Spiel gekommen sind, pferchen wir Geschwister unsere Kleinfamilien über die Weihnachtstage möglichst in einem unserer Haushalte zusammen. Die sorglosen Städtebummel und Partyferien von früher waren mit vier Kleinkindern aufs Mal kein Thema mehr. Was einst aus rein praktischen Gründen begann, ist in über 20 Jahren zum allseits geschätzten Standard geworden.
Die seit der Geburt auf gemeinsame Weihnachten dressierten jungen Erwachsenen kennen ja nichts anderes und freuen sich wirklich auf ihre Cousins und Cousinen. Und natürlich auf Fondue und Raclette und die endlosen, frenetisch gespielten Gesellschaftsspiele. Letzteres, obwohl sich erst vorletztes Jahr ein riesiger Irrtum klärte. «Schon lustig! Bei uns zu Hause will schon lange niemand mehr Spiele spielen. Ihr steckt uns immer total an!», sagte meine Schwester, während sie zufrieden ihre Skyjo-Karte aufdeckte und uns anderen damit einmal mehr bachab schickte. «Was sagst du da gerade? Wir spielen zu Hause auch nie! Ihr seid doch immer so wild drauf!», antwortete der drittgeborene Cousin, er logischerweise aus meinem Familienzweig und im Alltag nicht zum Spielen zu bewegen. Ausser, wenn dabei ständig etwas blinkt oder schiesst. Alle brauchten wir eine Weile, bis wir die ganze, viele Jahre überspannende Tragweite unserer gegenseitigen Trugschlüsse erkannten und so richtig loslachen konnten. Seit dieser Enthüllung spielen wir immer noch gleich viel wie vorher. Aber jetzt haben wir kapiert, warum wir es tun.
Ein einziges Mal war unsere Weihnachtspartnerfamilie anderweitig engagiert. Was tun? Fünf Tage lang im Weinland herumsitzen und zu viert tschauseppen? Wir entschieden uns für einen Städtetrip nach Strassburg, zumal aus den Kleinkindern inzwischen abenteuerlustige Vorpubertierende geworden waren. Die Stadthotels waren schon besetzt oder unbezahlbar, also reservierten wir in einem kulinarisch ausgezeichneten Gasthof ein paar Kilometer ausserhalb. Dort angekommen, war alles dunkel. Der Besitzer öffnete uns und drückte uns den Schlüssel fürs ganze Gebäude in die Hand – eigentlich sei sein Hotel geschlossen bis Silvester, aber die Festtage seien auf der Buchungsplattform nicht blockiert worden, und nun habe er uns nicht enttäuschen wollen. Wir seien leider rund um die Uhr allein im Hotel und müssten uns anderswo verpflegen, dafür gehöre die Kegelbahn Tag und Nacht nur uns!
Damit war klar, welches Spiel wir jeden Abend bis zum Umfallen spielten. Jeden Morgen warfen wir uns aufs Neue in Strassburgs Gewimmel. Was haben wir unseren Kindern die Welt gezeigt! Die Kathedrale mit der astronomischen Uhr und daneben den Palais Rohan, die Weihnachtsmärkte an jeder Ecke, den Vauban-Staudamm, die Place Gutenberg und die Place Kléber, die Flussfahrt im Glaskahn ins Europaviertel … Am 24. auf dem Morgenspaziergang durch das malerische Gerberquartier «La Petite France» begeisterten wir Alten uns für die Fachwerkbauten, derweil die Buben die Freundschaft einer Wasserratte suchten, die in einer Schleuse herumschwamm. In einem schönen Restaurant gleich daneben buchten wir ahnungslos einen Tisch fürs Weihnachtsmenü am Abend. Als wir kurz nach Türöffnung dorthin zurückkehrten, sassen an unserem Tisch und auch sonst überall schon sehr viel mehr Gäste, als die Feuerpolizei erlaubt hätte, und dazu plärrte eine Live-Band erbarmungslos «Feliz Navidad» in der Endlosschleife. Wir vier empfahlen uns auf Französisch und gönnten uns auf der anderen Strassenseite feierlich ein einfaches Bistroessen.
Strassburg mit den Kindern, eine unvergessliche Reise. «Wisst ihr eigentlich noch, vor etwa zwölf Jahren? Die Kathedrale, die Flussfahrt im Glasboot, die Weihnachtsmärkte überall?», habe ich meine Söhne letzthin gefragt. Sie guckten sich ratlos an, schüttelten bedauernd den Kopf. Verständlich, Stadt ist Stadt. In ihren Kindheitserinnerungen überlagern sich Strassburg, London, Züri, Rom, Mailand, Bern, Basel, Konstanz, Winti und Schaffhausen, mindestens. Wenn man es nicht wahnsinnig behutsam angeht, kann man den Nachwuchs beim Fördern schnell überfordern. «Doch, doch! Feliz Navidad und die grässliche Ratte in der Schleuse», versuchte ich es erneut, diesmal mit meinen unangenehmen Erinnerungen. «Die Ratte! Stimmt! Ja genau, Strassburg!», sagten sie begeistert: «Da sollten wir unbedingt mal wieder hin.»
Die Liebe wohnt im Herzen
von Christina Schaffner (cs), Redaktorin
«Leise rieselt der Schnee» dudelt aus dem Radio, während ich mit meiner fünfjährigen Tochter den Tannenbaum schmücke. Gestern haben wir ihn auf dem Feld im Dorf ausgesucht und gemeinsam nach Hause getragen – sie hatte die Spitze in der Hand, ich den Stamm.
Weihnachten bedeutet mir viel und ruft Erinnerungen an meine Kindheit wach: wie Mama und Papa gemeinsam den Baum schmückten und wir Kinder in der Küche warten mussten, bis das «Christkind» wieder weg war. Das hatte nämlich gleichzeitig die Geschenke gebracht.
Meine Mutter war eine begabte Frau, die viele verschiedene Dinge bastelte und viel handarbeitete. Unter anderem fertigte sie in einem Glasbläserkurs eine der Kugeln, die wir an den Baum hängen. Überhaupt sind viele der Kugeln und Baumschmuckteile mit Erinnerungen verbunden: Von Weihnachtsmarktbesuchen brachte ich immer wieder ein Stück mit, bastelte einige selbst und bekam auch spezielle Ornamente geschenkt.
Das laute Klirren von zerspringendem Glas reisst mich aus den Gedanken. Ich blicke in das erschrockene Gesicht meiner Tochter. «Mami, das wollte ich nicht. Sie ist mir aus den Händen gerutscht.» Ich blicke auf den Boden und erkenne auf einer Scherbe den Teil eines Schneemanns. Es ist die Kugel, die meine Mutter vor Jahren selbst geblasen und anschliessend bemalt hatte. Mir wird schwer ums Herz. Wie habe ich diese Kugel gehütet, seit meine Mutter vor vier Jahren starb.
Nein, ich schimpfe nicht mit Tamina, auch wenn ich innerlich weine. Gemeinsam fegen wir die Scherben zusammen und schmücken den Baum fertig. Tamina schaut mich unsicher an, als ob sie Vorwürfe erwarten würde. Sie weiss, welche Bedeutung diese Kugel für mich hatte – ich habe ihr davon erzählt, als wir den Schmuck vom Dachboden holten. Mir aber kommen keine Worte über die Lippen – weder vorwurfsvolle noch tröstende, dass es nicht so schlimm sei.
Die drei Tage bis Heiligabend vergehen schnell. Immer wieder fragt mich Tamina nach Stoffen und anderen Bastelmaterialien und verschwindet damit in ihrem Zimmer. «Wozu brauchst du das alles?», frage ich, und erhalte nur ein Gemurmel als Antwort.
Bei der Bescherung liegt plötzlich ein Päckchen unter dem Baum, das ich nicht eingepackt habe. «Das ist für dich, Mami», sagt Tamina, und reicht es mir. Sie hat aus den Stoffen, aus Draht und anderem Kleinkram einen Schneemann gebastelt. «Das ist zwar nicht der von Oma, aber ich hoffe, er gefällt dir trotzdem», meint sie scheu, und will so ihr Missgeschick wiedergutmachen. Gerührt nehme ich sie in den Arm: «Das ist der schönste Schneemann, den ich je bekommen habe», sage ich zu ihr. «Er hat ab jetzt einen ganz besonderen Platz an unserem Baum.»
In dem Moment ist mein Herz voller Liebe, und mir wird klar, dass die Liebe zu den Menschen nicht an Erinnerungsstücken festzumachen ist. Die Liebe ist in unseren Herzen. Gegenstände können uns zwar helfen, uns an frühere Zeiten zu erinnern. Aber mehr eben auch nicht. Das Wichtigste ist die Liebe, die uns verbindet, und die bleibt, selbst wenn alle Erinnerungsstücke längst verloren gegangen sind.
Eine Oma zu Weihnachten
von Cornelia Berger (cob), Redaktorin
Die Weihnachtsbeleuchtung funkelt und taucht die ganze Gasse in gelbes Licht. Schneeflocken fallen leise zu Boden und dämpfen die Geräusche der Stadt. Doch Erika und ihr Hund Fridolin können die Weihnachtsstimmung nicht geniessen. Ihre Geschenke sind längst auf dem Weg nach Australien. Seit ihre Tochter mit der Familie dorthin ausgewandert ist, fühlt sie sich an Weihnachten einsam. Sie hat niemanden, mit dem sie die Feiertage verbringen könnte. Hätte sie nur nicht solche Flugangst, dann könnte sie die Geschenke persönlich überreichen. Wehmütig macht sie sich auf den Heimweg.
Erika macht es sich mit einer Tasse Tee und der Zeitung vor dem Kamin gemütlich. Fridolin kuschelt sich an ihre Füsse und fängt schon bald an zu schnarchen. Beim lustlosen Durchblättern zu den Rätseln springt ihr ein Inserat ins Auge. Oma gesucht, lautet der Titel. Familie Müller sucht eine Person, die in der Nähe wohnt, Kinder mag und Zeit und Freude hätte, einige Stunden pro Woche mit der Familie zu verbringen. Erika erinnert sich an die vielen heiteren Stunden, die sie mit ihren Enkeln verbringen durfte. Sie nimmt ihren Mut zusammen und ruft bei der Familie an.
Erika schliesst die Kinder Olaf und Max beim ersten Treffen sofort ins Herz. Auch die Eltern der beiden mag sie sehr. Erika verbringt fast jeden Tag Zeit mit der Familie. Sie gehen in den Zoo, machen Spaziergänge am Rhein und backen zusammen Weihnachtsguetzli. Es ist schön, wieder etwas Tumult im Leben zu haben. Auch Fridolin freut sich über die zusätzlichen Streicheleinheiten und über die Essensreste, die die Kinder jeweils unauffällig auf den Boden fallen lassen.
Erika vergisst ganz, wie einsam sie sich gefühlt hat – bis plötzlich Weihnachten vor der Tür steht. Sie verabschiedet sich am Abend des 23. von der Familie und wünscht ihr frohe Weihnachten. Erschrocken fragt Olaf: «Feierst du nicht mit uns, Oma Erika?» Erika verneint, sie sei ja nur die Ersatzoma. Da schaltet sich die Mutter ein: «Wir würden uns sehr freuen, wenn du mit uns feiern würdest, Erika. Du bist jetzt Oma Erika und gehörst zu unserer Familie.» «Du brauchst auch kein Geschenk zu bringen. Eine neue Oma ist das beste Geschenk, das ich mir vorstellen kann», ergänzt Max.
Am Weihnachtsabend sitzen alle im festlich geschmückten Wohnzimmer zusammen. Nach dem Fondue Chinoise geniessen die fünf die gemeinsam gebackenen Guetzli und tauschen Geschenke aus. Olaf und Max schenken Erika Zeichnungen, die sie zu Hause am Kühlschrank aufhängen will. Erika geniesst jede Sekunde und freut sich schon, ihrer Tochter zum ersten Mal wahrheitsgemäss sagen zu können, dass sie nicht einsam war. Fridolin rollt sich unter dem Weihnachtsbaum zusammen. Er spürt, wie glücklich Erika ist, und weiss: Das ist jetzt ihr zweites Zuhause.
Die schwerste Zeit im Amt
von Tizian Schöni (tz), Redaktor
Mühsam knubbelt er den Wachs aus dem Kerzenhalter. Alles klebt, und er wünschte sich, er hätte einen Backofen. Das würde die Sache einfacher machen. Aber auf der Kanzlei gibt es ja nur eine Mikrowelle in der kleinen Küche. Und da soll ja kein Metall rein, hat er mal gehört.
Jetzt pickt er also mit seinem Sackmesser die Wachsreste aus den kleinen Löchern für die Christbaumkerzen. Und gestern war er extra noch ins Nachbardorf gefahren, um einen Baum zu holen. Weil der Toni vom Werkbetrieb schon in den Ferien war – oder sich vor ihm im Lager versteckt hatte. Wer weiss. Sowieso lässt er ihn seit einiger Zeit links liegen. Vielleicht, weil sie an der letzten Budgetversammlung den Kredit für seinen neuen Werktraktor gekippt hatten. Aber der Toni gibt doch wohl nicht ihm die Schuld dafür, oder? Schliesslich hat das Volk entschieden.
Auf jeden Fall wollen sie ja unbedingt einen Baum. «Ein Weihnachtsapéro ohne Baum, das ist einfach nur noch trist», hört er schon die Stimmen der ehemaligen Behördenmitglieder.
Und eine Lichterkette, das geht auch nicht. Weil der Mesmer vor vier Jahren an der Sonntagsschul-Weihnacht elektrische Lämpchen am Baum befestigt hatte und darauf Teile des Gesangsvereins bei «Das Licht einer Kerze» demonstrativ das Singen verweigerten. Darauf musste sich die Kirchenpflegepräsidentin im Gemeindeblatt entschuldigen, und die Lokalzeitung titelte «Krippenspiel – das Feuer fehlte».
Sowieso, dieses Käseblatt. Bestimmt wird der Journalist auch am Apéro auftauchen. Und sich wieder ordentlich an den Häppchen bedienen. Dabei ist er ja nicht einmal ortsansässig. Und was herauskommt, ist dann wieder nur ein kleiner Bildkasten im zweiten Bund.
Ein leiser Fluch entgleitet ihm, als er mit dem Sackmesser abrutscht und sich in den Finger schneidet. Schnell öffnet er die Tür des Sitzungszimmers und späht hinaus. Zum Glück ist es schon nach acht, da sind die Verwaltungsangestellten längst abgerauscht. Wie peinlich, wenn er jetzt wegen eines Pflasters fragen müsste.
Kaum hat er sich in der Küche einen notdürftigen Verband aus Haushaltspapier gebastelt, klingelt das Telefon am Empfang. «Zu dieser Uhrzeit? Das muss etwas Wichtiges sein!», denkt er sich, und sprintet über den Flur zur Telefonanlage. «Köbi, bist du es?», tönt es aus der Leitung. «Nein, hier ist Ernst.» «Ach Ernst, gut, dass ich dich noch erreiche. Du, hör mal, bei uns in der Strasse drückt es Wasser raus. Ich habe euch ja gesagt, die Leitung hättet ihr schon lange machen müssen. Kannst du den Toni schicken? Bei mir läufts bald in den Keller!» «Der Toni ist in den Ferien, aber wir haben einen Pikettdienst. Ich rufe gleich an, die sind in einer halben Stunde dort. Mach dir keine Sorgen.»
Es ist kein einfaches Gespräch. Der Tiefbauunternehmer ist schon auf dem Weg ins Skigebiet. Aber Ernst hat noch einen gut bei ihm, und so würde er heute den Schieber zudrehen und die Sauerei morgen aufbaggern.
Kaum zurück im Sitzungszimmer, hört er das Surren der Schlüsselanlage. Die Gemeindeschreiberin schaut herein. «Ich habe meinen Schlüssel vergessen ... Jesses Ernst, was machst du denn noch hier? Und hast du dich verletzt?»
Schon will er zu einer Erklärung ansetzen, da sagt sie: «Du, also wegen dem Apéro morgen, mach dir mal keinen Kopf. Der Toni war gestern den halben Tag im Wald unterwegs, um eine passende Tanne zu finden. Der Messmer hat sich zusammen mit dem Gesangsverein bereit erklärt, den Baum mit echten Kerzen zu schmücken.» Sie zwinkert wissend. «Und morgen ist ja Seniorenreise, dann sind die Ehemaligen alle im Engadin. Von denen hast du also nichts zu befürchten. Ach, und eben hatte ich einen Anruf vom Pikettdienst. Der Wasserrohrbruch war nur eine verstopfte Drainage.»
An diesem Abend gehen für den Gemeindepräsidenten sämtliche Weihnachtswünsche in Erfüllung.
Ein zwiespältiger Baum
von Manuel Sackmann (msa), Redaktor
Seppli ist ein Landei. In die grosse Stadt geht er selten. Doch vor Weihnachten gönnen sich er und sein Vreneli die volle Dröhnung. New York City: Die Stadt, die niemals schläft. Zur Adventszeit soll es dort besonders schön sein, hat Seppli gehört. Und da gebe es doch diesen berühmten, reichlich geschmückten Baum direkt vor dem Rockefeller Center. Den müsse man gesehen haben. Am besten gleich während der offiziellen Eröffnungszeremonie.
Anfang Dezember ist es kalt in Manhattan. Dick eingepackt verlassen Seppli und Vreneli ihr Hotel und machen sich auf den Weg zur U-Bahn. Während sie auf den Zug warten, stinkt es nach abgestandener Luft, überall ist es dreckig. Und Obdachlose machen sich auf unbequeme Weise auf den wenigen Sitzflächen breit. Die einzelnen Sitze sind jeweils mit Armlehnen voneinander getrennt. Die Stadt tut alles, um die Stationen für Randständige so ungemütlich wie nur möglich zu machen. Dabei wäre es dort wenigstens warm. Nicht gerade ein weihnachtlicher Gedanke.
Beim Rockefeller Center angekommen, folgt der nächste Schreck. In der Ferne ist ein stattlicher Baum zu erkennen. Dahin zu kommen, ist aber schon früh am Abend ein Ding der Unmöglichkeit. Überall wimmelt es von Menschen, die die Gassen verstopfen. Es herrscht ein Gedränge sondergleichen. Kampflustig ringt das Weihnachtsvolk um jeden Quadratmeter. Man hätte es ahnen können. Schliesslich zieht der Rockefeller-Baum pro Tag 500'000 Besucher an. Zur offiziellen Einweihung, wenn auf der Bühne diverse Musiksternchen Liedchen trällern, dürften es kaum weniger sein. Immerhin ist der Lichterzauber gratis. Das Gedränge ersparen konnte sich, wer für viel Geld ein Ticket für die abgesperrte Zone direkt vor der Bühne gekauft hatte. Ob sich das wirklich lohnt?
Auch der Baum selbst ist eine zwiespältige Angelegenheit. Ja, es ist eindrücklich, wenn die 50'000 LED-Lämpchen die Nacht erhellen. Und auch die aus drei Millionen echten Swarovski-Kristallen bestehende Spitze fasziniert. Aber braucht es das? Allein die Spitze wiegt 400 Kilogramm und hat einen Wert von 1,5 Millionen Dollar. Der Baum, eine 70-jährige Fichte, stammt nicht aus einem Wald, er stand zuvor im Garten eines Hauses in Massachusetts. Für weitere 1,5 Millionen Dollar wurde er gefällt und 200 Kilometer weit transportiert, nur damit er zwischen Hochhäusern im Beton-Dschungel verschwindet. Ein anderer Baum hätte es ja nicht getan.
Diese Informationen erfahren Seppli und Vreneli gemütlich in ihrem Bett. Beim Anblick des Gewühls von Menschen in der Innenstadt haben sie direkt auf dem Absatz kehrt gemacht. Statt zwischen gestressten Seelen in eisiger Kälte auszuharren, erleben sie die überkommerzialisierte Christbaum-Zeremonie vor dem Fernseher und in trauter Zweisamkeit im warmen Hotelzimmer. Denn im Grunde geht es in der Adventszeit doch darum, Zeit mit seinen Liebsten zu verbringen. Auf die Ellbogenstösse in die Rippen hat Seppli gerne verzichtet und kuschelt sich noch etwas enger an sein Vreneli.
Der Baum steht übrigens noch bis Mitte Januar an seinem Platz. Danach werden aus seinem Holz Häuser für Bedürftige gebaut. Immerhin das ist weihnachtlich.
Einmal wirklich besinnlich
von Jan Wattenhofer (jwa), Praktikant
«Nicht dieses Jahr», sagt Luana. «Ach nein?», fragt Nils. Er hat bereits im Sommer begonnen, sich mental auf die traditionellen Weihnachtsstrapazen vorzubereiten. Die Festtage laufen Jahr für Jahr gleich ab. Streit, Eifersüchteleien, peinliches Schweigen. Von Besinnlichkeit keine Spur. Weder in der Familie von Luana noch in der von Nils. «Wir gehen über die Festtage weg. Weit weg!», sagt sie. «Wohin?», fragt er. «Ganz egal.» – «In die Berge?» – «Nicht weit genug.» – «Italien?» – «Ich sagte, weit weg!» – «Japan?»
Tokio erwartet die beiden mit Millionen Weihnachtslichtern und genauso vielen Menschen. Kein Vergleich zu Andelfingen. Luana und Nils haben sich vor ihrer Reise eingelesen. «Fest der Liebe» nehmen die Japaner wörtlich. Im Land der aufgehenden Sonne feiert man Weihnachten zu zweit, ähnlich wie den Valentinstag.
Der Abend nach ihrer Ankunft: Der Magen knurrt nicht, er jault. Das Lokal, in dem sie sich wiederfinden, ist traditionell eingerichtet, geschmückt mit etwas Weihnachtskitsch. Luana und Nils setzen sich auf zwei Hocker an der Bar im Eingangsbereich. Von dort überblicken sie das gesamte Restaurant. Die Gäste haben keine Schuhe an, sitzen an kniehohen Tischen auf dem Boden, essen, trinken, diskutieren, lachen.
Eine Kellnerin begrüsst die beiden und gibt ihnen die Karte. Alles auf Japanisch. Mit ihren Smartphones übersetzen sie das Menü. Das junge Paar entscheidet sich für Oden, einen japanischen Eintopf. Zu trinken, gibts ein Glas Weisswein. «Kanpai», sagt Luana und erhebt ihr Glas. «Was?», fragt Nils. «Das heisst Prost auf Japanisch.» Sie stossen an, das Essen kommt und schmeckt.
Nach einer Weile bringt die Kellnerin zwei Gläser, stellt sie vor Luana und Nils ab und zeigt auf einen alten Mann ganz hinten im Lokal. Der Herr mit schneeweissem Haar sitzt am oberen Tischende, zusammen mit vielen jungen Leuten. Er lächelt, sie lächeln zurück.
Wie die prickelnd süsse Flüssigkeit heisst, die sie da trinken, wissen Luana und Nils nicht. Der Kellnerin machen sie klar, dass sie dem alten Mann gerne ihren Dank aussprechen wollen. Sie führt das Paar über die Tatami-Matten zu seinem Tisch mit den jungen Leuten.
Mit den Worten «Arigato Gozaimasu» und einer Verbeugung bedanken sie sich beim Herrn. Wieder lächelt er. Mit seiner Hand weist er auf den freien Platz neben sich. Luana und Nils sind verwirrt. Der Alte macht deutlich, dass sie sich setzen sollen.
Das tun sie und werden von allen in der Runde herzlich empfangen. Mit Händen, Füssen, dem Google-Übersetzer und etwas Alkohol gelingt die Kommunikation. Der Einzige, der nichts sagt, ist der alte Mann. Irgendwann wendet sich Luana ihm zu: «What’s your name?» Er antwortet: «Kurosawa.» Wie der legendäre Filmregisseur, denkt sie sich.
«Yuki!», ruft eine Frau am Tisch und zeigt auf die Fensterfront. Alle schauen hinaus. Schneeflocken fallen vom Himmel. Als sich Luana zurück zum alten Mann dreht, ist er verschwunden. «Wo ist Kurosawa-san hin?», fragt sie Nils. «Wer?», antwortet er. In diesem Moment hat auch Luana den alten Mann mit den schneeweissen Haaren vergessen – genau wie alle anderen. Geblieben ist jedoch dieser besinnliche Adventsabend mit Fremden.
Es werde Licht
von Roland Spalinger (spa), Chefredaktor
Grossartig. Eine Weihnachtsgeschichte verlangt der Tagesleiter für die letzte Ausgabe vor Weihnachten, die an Heiligabend erscheint. Von allen! Nichts Grosses, 2000 Zeichen. Etwas erfinden? Der Kreativität freien Lauf lassen! Sich freuen über den Lichterzauber, der gefühlt am Jahrmarkt-Mittwoch anfängt und langsam, aber sicher seinen Höhepunkt erreicht?
Die Vorweihnachtszeit ist ja vor allem eines: überladen. Alles ist im Dezember. Muss noch rein im alten Jahr. In den Dörfern laden Adventsfenster und -brunnen zu Spaziergängen, in den Städten Weihnachtsmärkte, die mehr Street-Food-Festivals sind. Die Insel Mainau lockt mit einem beleuchteten Blumenmeer, das Bundeshaus mit Szenen aus der Vogelwelt, das Landesmuseum in Zürich mit dem Illuminarium. Fast alles verpasst, weil fast alles gleichzeitig in einer Zeit, die, eben, eh schon überladen ist.
Dann steigen ein paar Raketen in die Luft, erhellen den Himmel an einem Tag, der persönlich seinen ganzen Zauber verloren hat. Er ist einfach dunkel. Wie der ganze Monat. Nun wäre zwar Zeit, die Lust auf Glühwein scheinbar überall weg. Wohl deshalb gibt es keine solchen Stände mehr. Strassen, Gassen und Plätze: ziemlich leer. Ist das das Januar-Loch? Immerhin läuft im TV vor und nach Tagessschau, Meteo, 10 vor 10 und wieder Meteo nicht zum wiederholten Mal die dröge Werbung der beiden Grossverteiler, die sich auch in diesem Jahr wieder mit Sendeminuten überbieten wollen. Gibts bei SRF eigentlich auch Wiederholungsrabatt? Und habe ich schon erwähnt, dass ich Zimt nicht mag? Ich schweife ab.
Hoffentlich haben es die Kolleginnen und Kollegen hinbekommen, das mit der Weihnachtsgeschichte. Meine ist ja keine, die Warnung wollte ich eigentlich ganz am Anfang platzieren. Und am Schluss etwas Versöhnliches: Immerhin werden seit Samstag die Tage wieder länger. Es werde Licht.
Weihnachtsgeschichten aus der Redaktion