Wie aus dem Nichts das pralle Leben

Andelfingen - Beim Haldenweg, wo sonst bloss Schafe blöken, summen seit gestern Tausende Wild­bienen. Woher sie so plötzlich kommen, was sie suchen und warum sie keine Panik, sondern Freude auslösen sollten, erklärt Bienenexperte Philipp Heller.

Silvia Müller (sm) Publiziert: 15. September 2023
Lesezeit: 3 min

Vorgestern noch war alles wie immer: Die einzige nennenswerte Attraktion am zertrampelten Steilhang beim Haldenweg boten die grasenden Schafe. Gestern dann übertönte ein lautes Summen alles. Es kam von Tausenden Bienen, die knapp über dem Boden kreisten, wirr durcheinander, scheinbar planlos. Sie interessierten sich nicht für die Blüten, bildeten aber da und dort wimmelnde Haufen. Auf Dutzenden Quadratmetern kehrte keine Sekunde lang Ruhe ein. Woher kamen diese Insekten so plötzlich, und was genau machten sie? Anhand des online zu sehenden Handyfilmchens konnte Philipp Heller von der Bienenfachstelle des Kantons Zürich diese und weitere Fragen innert Minuten klären. 

Also: Die Insekten waren schon vorher dort, aber bis vor wenigen Tagen unsichtbar im Boden. Es handelt sich um die Wildbienenart Efeu-Seidenbienen (Colletes hederae). Die Weibchen der letztjährigen Generation haben im Boden, den die Schafe mit ihren Hufen schön offenhalten, Nester angelegt, aus denen nun frische Wildbienen schlüpfen. Die meisten der Tiere in der Luft sind paarungswillige Männchen, die etwas früher als die Weibchen aus dem Boden geschlüpft sind.

Anders als bei Honigbienen handelt es sich nicht um einen Schwarm, wenn sich viele Wildbienen am gleichen Ort finden. Wildbienen bilden keine Völker, Männchen und Weibchen sind Einzelgänger. Am Haldenweg sind nur deshalb so viele Tiere zusammengekommen, weil dort alle Bedingungen für die Fortpflanzung erfüllt sind: Die Lage ist sonnig, der Boden hat offene, karge Stellen, und rundherum öffnet soeben der Efeu seine Blüten. Die Weibchen werden nach der Paarung fast ausschliesslich den Efeupollen einsammeln, zu einer kleinen Kugel formen und in die vorbereiteten Brutzellen legen. Darauf deponieren sie ihre Eier. 

Das alles dauert nur wenige Wochen. Danach ist die Mission Fortpflanzung erfüllt – die Männchen sterben etwas früher, die Weibchen spätestens Mitte Oktober. «Die allermeisten Wildbienenarten leben nur durchschnittlich sechs Wochen in ihrer flugfähigen und sichtbaren Gestalt. Die Monate danach überleben sie als Larven, Puppen oder fertig entwickelte Bienen im Boden», erklärt Philipp Heller. Erst wenn nächsten Herbst der Efeu wieder blüht, kriechen die Efeu-Seidenbienen am Haldenweg wieder als flugfähige Insekten ans Licht, um sich zu  finden. Das Schauspiel wird sich wiederholen, solange die Bedingungen stimmen.

Viele sind hochspezialisiert
Unter den zahlreichen Wildbienenarten fliegen die Efeu-Seidenbienen als letzte der Saison aus – ihr Futter blüht sehr spät im Jahr. Von Frühling bis Herbst sind zu jeder Zeit unterschiedliche Bienenarten aktiv. «Es gibt zum Beispiel auch Frühlings-Seidenbienen, die schon im März und April den Pollen der Weidenkätzchen einsammeln», erklärt Philipp Heller. 

Die Efeu-Seidenbiene breite sich in den letzten Jahren stärker aus, wohl wegen den klimatischen Veränderungen. Ihrer Brut schade die normale Nutzung des Bodens nicht. «Die Schafe können weiterhin grasen, der Hang kann gemäht werden. Einzig umgraben würde die Eier und Larven zerstören», sagt der Experte.

Sie stechen in aller Regel nicht
Weil Wildbienen keine Völker bilden, die sie verteidigen wollen, sind sie auch nicht stechfreudig, sondern fliehen eher. Natürlich könne man gestochen werden, wenn man barfuss auf eine trete – doch in ein solches Gewimmel wagt sich wohl niemand ohne Schuhe. 

Für die Passanten am Haldenweg hat das überwältigende Summen am blühenden Efeu nun eine geheimnisvolle, stille Fortsetzung in der Weide nebenan. Dort schlummern bald die Wild­bienen des Jahres 2024.